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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

presseartikel1892-08-27 → Die deutſche Orthographie
ortografie.ch ersetzt sprache.org ortografie.ch ersetzt in zukunft sprache.org

Bündner Nachrichten (), , 7. jg., nr. 201, s. 1 bis 2, fraktur (1163 wörter)

Die deutſche Orthographie

bildet zunächſt das wahre Hauskreuz der Lehrer und Schüler an untern und höhern Schulen. Zu dem Dutzend Syſteme, die mehr oder minder große Autoritäten zu Vätern haben, kommt noch die Unzahl derjenigen, die der einzelne Schriftſteller oder Lehrer frei erfindet oder aus den übrigen zuſammenbraut. Das ck, das große und kleine th, das ht, das ee und aa, das c, das ie, das ſſ und ß und all’ die andern Plagegeiſter bilden zuſammen einen fürchterlichen Geiſterchor. Nirgends hat man einen feſten Anhalt, nichts als Willkürlichkeiten, Kopfzerbrechen, Aergerniß und rothe Striche im Aufſatz. Der Krieg gegen dieſe undisziplinirten Freiſchärler, die in die ſchönſte Novelle einbrechen und da den Genuß verderben können, iſt aber auch ein ſehr verdienſtliches Werk gegenüber dem Setzer und Leſer, d. h. Jedermann, da Jedermann lieſt.

Während Franzoſen und Engländer ſchon längſt einer allgemein gültigen Orthographie ſich erfreuen, mühen wir deutſchen Sprachgenoſſen uns ſeit 20 Jahren ab, aus dem Wirrwarr herauszukommen. Bis anno 1870 etwa herrſchte ungeſtörte Freiheit in der Schreibweiſe der Wörter. Unſere Alten ſangen wie Jedem der Schnabel gewachſen war; und wie es ihm gerade beliebte, ſo ſchrieb er. Um den genannten Zeitpunkt herum traten in Berlin zum erſten Mal deutſche Sprachgelehrte zuſammen, der hundertköpfigen Hydra Rechtſchreibung einige Köpfe abzuſchlagen. Der unmittelbare Erfolg dieſer Bemühungen war gering; doch ſchuf man, geſtützt auf die Berliner Berathungen, in verſchiedenen deutſchen Staaten auf amtlichem Wege Regeln der Rechtſchreibung, und im Anſchluß an die preußiſchen, bairiſchen und ſächſiſchen Regeln gab Dr. Duden ſeine orthographiſchen Wörterbücher heraus, die eine ganz außerordentliche Verbreitung fanden und auch bei uns in zweifelhaften Fällen zu Rathe gezogen wurden.

Faſt gleichzeitig gab die vom Zentralausſchuß des ſchweizeriſchen Lehrervereins beſtellte Kommiſſion eine zweite Auflage des ſchon 1863 erſchienenen Rechtſchreibebüchleins heraus, wobei ſie ſich zwar an die Orthographie Dudens anlehnte, in einigen Punkten aber ihre eigenen Wege ging und damit, zum Theil wenigſtens, dem Grundſatz der Vereinfachung beſſer nachlebte. Die Erziehungsdirektoren anderer deutſcher Kantone traten hierauf zu einer Konferenz in Zürich zuſammen, beſprachen dort die Tagesfrage und beſchloſſen, die Orthographie des Rechtsſchreibebüchleins ſei in unſeren Schulen einzuführen und neue Schulbücher ſeien in dieſer Orthographie zu drucken. Das geſchah. Bald folgten auch andere Bücher, einige Zeitungen und Zeitſchriften.

Gleich anfangs hatte ſich jedoch die Anſicht geltend gemacht, die Schweiz hätte ſich in allen Theilen an Deutſchland anſchließen ſollen. Dieſe gewann namentlich bei Buchdruckern und Buchhändlern immer mehr Boden, je mehr ſich die Uebelſtande der Doppel- oder Mehrſpurigkeit zeigten. Aus dieſen Verhältniſſen heraus iſt die Konferenz entſtanden, welche am 24. ds. in Bern zuſammentrat.

Die Duden’ſche Orthographie weicht von der oben genannten neuen ſchweizeriſchen nicht weſentlich ab. Wer Anſtoß nahm an dieſer, der wird auch an der Duden’ſchen Anſtoß nehmen. Duden ſchreibt wie die neuſchweizeriſche: Ware, Schar, Star, Schere, Los; Gefängnis, deshalb, Brot u. ſ. w. Auch die Freunde des th werden wenig erbaut ſein. Wohl iſt das th beibehalten in Eigennamen und Fremdwörtern griechiſchen Urſprungs, wie bei uns, ferner in einigen deutſchen Wörtern, wo das h als Dehnungszeichen aufgefaßt wird, obſchon es vor dem Vokal ſteht. So in Thal, Thäler, That, thätig, thun, Thon, thönern, Thor, (der und das) thöricht, Thräne, Thüre. Aber auch die Deutſchen ſchreiben wie die Neuſchweizer: Tau, tauen, auftauen, Teil, teilen, Teer, teeren, Tier, tieriſch, teuer, Teurung, weil in dieſen Wörtern die Dehnung hinlänglich bezeichnet iſt, und Turm, türmen, weil hier der Vokal nicht gedehnt iſt. Im Auslauf fällt das h überall aus: Wirt, Wert, Mut, rot, Rat u. ſ. w.

Ein weiterer Unterſchied macht ſich geltend bei den fremden Verben, die auf „iren“ enden. Dieſe werden nach der ſchweizeriſchen Regel ohne e geſchrieben, nur regieren, ſpazieren, barbieren, einquartieren und tapezieren ſchreibt man „der entſprechenden Subſtantive wegen“ mit e. Nach Duden werden alle dieſe Verben gleich behandelt, mit ie geſchrieben, alſo auch: diktieren, korrigieren, marſchieren, dividieren, probieren u. ſ. w. Da iſt der deutſchen Schreibung entſchieden der Vorzug zu geben, weil die leidigen Ausnahmen wegfallen.

Den deutſchen Wirrwarr ſchildert an der Konferenz Hr. Bücheler in Bern, ein ehemaliger Schriftſetzer, von ſeinem beruflichen Standpunkt aus alſo: „Es kam vor, daß ich an ein und demſelben Tage nach drei verſchiedenen Orthographien ſetzen mußte. Das Schimpfen der Setzer nahm kein Ende. Am ſchlimmſten kommen dabei diejenigen Autoren weg, welche ihre eigenen Privat-Orthographien berückſichtigt haben wollen. Schriftſetzer, Korrektor und Prinzipal ſind betreffs Orthographie in beſtändiger Unſicherheit und vollſtändig den Launen der Autoren preisgegeben. Am ſchwerſten leiden die Setzer darunter, da das Hinein- und Herauskorrigiren von Buchſtaben eine ſehr zeitraubende, ſtündlich wiederkehrende Arbeit iſt, welche die Schriftſetzer in den meiſten Fällen auf ihre eigenen Koſten tragen müſſen.

Niemand mehr als die Schriftſetzer werden froh ſein, wenn endlich ein beſtimmtes Wörterbuch anſtatt der vielen verſchiedenen Autoren ſagt, wie geſetzt und wie nicht geſetzt werden ſoll. Die Erledigung dieſer Frage bedeutet in kleinem Maße eine Beſſerſtellung der Schriftſetzer und der Buchdrucker überhaupt. Es iſt daher leicht erklärlich, daß die graphiſchen Gewerbe für die Sache der Einheit in der Orthographie das größte Intereſſe an den Tag legen.“

Hr. Bücheler kam in ſeinem Referat dann zum Schluß, daß die Schweiz direkt die Duden’ſche Orthographie annehmen ſolle, und zwar aus folgenden Gründen:

1. iſt eine internationale Regelung dieſer Frage nunmehr nicht mehr möglich, nachdem Deutſchland, das 20 bis 21 Mal mehr deutſchſprechende Einwohner zählt als die Schweiz, eine vom ſchweizeriſchen Bundesrathe angeſtrebte internationale Ortho­graphie-Konferenz im Jahre 1886 und nun wieder Ende 1891 definitiv abgelehnt hat; 2. hat bei dieſer Sachlage die theilweiſe in den ſchweizeriſchen Schulen eingeführte neue ſchweizeriſche Orthographie keine Ausſicht mehr, von Deutſchland oder Oeſterreich angenommen zu werden; 3. iſt ſelbſt in der Schweiz auf allgemeine Durchführung der neuen ſchweizeriſchen Orthographie keine Ausſicht; 4. würde auch dann, wenn die Durchführung der neuen ſchweizeriſchen Orthographie in der Schweiz erreicht werden könnte, die Schweiz mit ihrem verhältnißmäßig ſo kleinen Sprachgebiet wieder vereinzelt daſtehen und würde durch die große Menge der in Deutſchland gedruckten und in der Schweiz geleſenen Bücher und Zeitſchriften der Wirrwarr fortexiſtiren; 5. würde die Schweiz mit einer eigenen Orthographie ſich ſelbſt ſchädigen, indem die in der Schweiz nach neuer ſchweizeriſcher Orthographie gedruckten Bücher in Deutſchland keinen oder nur ſehr beſchränkten Abſatz fänden; 7. kann es ſich für die Schweiz nicht darum handeln, die an und für ſich beſte Orthographie ausfindig zu machen, ſondern ſich einer der beſten und zugleich verbreitetſten der beſtehenden Orthographien anzuſchließen; 8. iſt die ſogenannte preußiſche, d. h. die in Duden’s „Orthographiſchem Wörterbuch“ feſtgeſetzte Orthographie bereits gegenwärtig in der Schweiz ſehr verbreitet; 9. iſt die preußiſche Orthographie die verbreitetſte Orthographie in Deutſchland und hat alle Ausſicht, binnen kurzem zur Alleinherrſchaft in Deutſchland zu gelangen; 10. beſitzt die preußiſche Orthographie, wie keine andere deutſche Orthographie, in Duden’s „Orthographiſchem Wörterbuch“ ein reichhaltiges gutes Wörterbuch.

Die Konferenz konnte ſich der Gewichtigkeit dieſen Gründe nicht verſchließen und die Mehrheit nahm Stellung zu Gunſten der Einführung der Duden’ſchen Orthographie, wenn ihr auch nicht Alles daran gefällt. Doch wurde die oben angedeutete Inkonſequenz des Duden’ſchen th ausgemerzt.

Wie ſich die Sache nun macht, wird die Zukunft weiſen. Endgültig iſt die Frage noch nicht erledigt, weil die meiſten Delegirten nicht die Kompetenz hatten, bindende Abmachungen einzugehen.